/

Erfahrungsbericht Lea Whitcher, Departement Darstellende Künste, BA Schauspiel

Ich habe in der Schweiz drei Jahre lang Theater studiert, habe mir das Vokabular angeeignet, habe gelernt, was richtig gutes Schauspiel ist, was man vermeiden sollte, was gar nicht geht, und so weiter. Dann kam ich nach China, und plötzlich waren der Grossteil meiner ästhetischen und konzeptionellen Richtmassen auf den Kopf gestellt. Zum Beispiel war es extrem super, auf einen Witz zu sitzen. Kam richtig an. Die Leute habens geliebt. Dafür war ein Spiel mit der Realitätsebene völlig sinnlos. Wieso sollten wir Realität auf der Bühne zeigen, die Leute kommen doch hierher, um dem Alltag zu entfliehen?!?

Ich war gezwungen, meine eigenen ästhetischen Visionen und Vorstellungen nochmal unter die Lupe zu nehmen und für mich selbst zu überprüfen. Manchmal kam ich zum Schluss, dass sie gar nicht wirklich mir gehörten, sondern meiner Kultur. Theater ist Geschmackssache. Eigentlich weiss man das ja. Aber so klar wie in Beijing wurde mir das noch nie. Dann kamen zwei Aufgaben: Erstens mir mal ernsthaft überlegen, was für ein Theater ICH denn eigentlich mag. Zweitens: Das Theater meiner Kultur versuchen zu erklären, und zwar in einfachen Worten, ohne viel Blabla, denn Blabla – Kulturblabla, wie man es im gleichsprachigen Raum so gewohnt ist, dass man gar nicht merkt, dass man oft nur noch Blabla redet - ist unübersetzbar. Ausserdem natürlich die Konfrontation mit den Bedingungen: Fünf Wochen, keine gemeinsame Sprache, eine halbe Idee, 11 Menschen aus allen künstlerischen Bereichen und zwei Ländern. Und alle sollen mitmachen. Das Projekt soll von allen kommen. Wie geht man denn damit um, wenn sich gar nicht alle einbringen wollen? Wir wollen eine flache Hierarchie, aber dazu müssen wir die Leute bevormunden und ihnen befehlen, ihre Ideen einzubringen. Ist das Kolonialismus im Mikrokosmos? Oder haben sie insgeheim uns in der Hand? Wie geht man denn – verdammt nochmal – mit sowas um? Ich glaube, so etwas wie Common Stage ist ein perfekter Ort, um sich nicht nur ästhetisch weiterzubilden und zu hinterfragen, sondern auch menschlich und irgendwie politisch. Denn Theater hat immer die Chance, in der Arbeitsweise ein kleines Gesellschaftsmodell zu sein.

Am meisten geflasht hat mich ihre Applauskultur: Als ich da auf dieser Riesenbühne stand und natürlich völlig unperfekt und gar nicht beautiful meine eingeübten Peking-Opern-Moves vollbracht habe, haben sie mir trotzdem zugeklatscht. Und richtig gejubelt haben sie, als ich meinen Text auf Chinesisch aufgesagt habe. „Ja, es ist wirklich sehr schön hier, aber ich muss zurück nach Hause“ sagte die Kriegerin Mulan zur kleinen Meerjungfrau, während sie zusammen den Unterwassertanz tanzten. Dafür haben sie am Schluss nur noch so dreimal die Hände zusammengetan und sind dann nach Hause gegangen. Da dachte ich dann auch, es ist wirklich sehr schön hier, aber ich sehne mich nach der Schweiz - und habe zurück in Normalland trotzdem oft und sehnsüchtig von Schweinsohren und Lammhoden geträumt.